“die Körnigkeit der Zeit/ Soldaten und Witwen”
20017-2020
“Kollektives erinnern”
Fotografische Arbeiten liegen mir vor. Auf ihnen die Abbildung uniformierter Männer aus der Zeit des 1. Weltkriegs. Ich sehe nicht eindeutig Mitglieder von Streitkräften, in jedem Fall aber sind es - abrufbar aus meinem und einem kollektiven Gedächtnis - Uniformierte dieser Zeit des gewaltsamen Bruchs zwischen Monarchie und Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Deutlich Erkennbar sind die Uniformen, sind Kopfbedeckungen und die Bereiche um Stirn und Kinn.
Nicht erkennbar sind die Augen.
Ihr Bereich auf den Bildern wirkt gleichermaßen verdeckt, überschattet und überstrahlt: mit grauen bis tiefschwarz zirkularen Feldern, die sich wie eine Maske um und auf die Augenpartie legen und den Portraitierten ihre Individualität nehmen, um ihnen den Schutz dieser Maske zu geben. Darin liegt etwas Verstörendes, etwas Unheimliches und Abgründiges, etwas voller Kraft und Faszination.
(Ausschnitt aus dem Text von Jochen Steinmetz)
„Keine Erinnerung soll verloren gehen,
auch wenn sie deutlich nicht meine Erinnerung ist“ Gabi Kaiser
Fotografische Arbeiten liegen vor mir. Auf ihnen die Abbildung uniformierter Männer aus der Zeit des ersten Weltkriegs. Ich sehe nicht eindeutig Mitglieder von Streitkräfte, in jedem Falle aber sind es – abrufbar aus meinem und einem kollektiven Bildgedächtnis – Uniformierte dieser Zeit des gewaltsamen Bruchs zwischen Monarchien und Moderne zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Deutlich erkennbar sind die Uniformen, sind Kopfbedeckungen und die Bereiche um Stirn und Kinn.
Nicht erkennbar sind die Augen.
Ihr Bereich auf den Bildern wirkt gleichermaßen verdeckt, überschattet und überstrahlt: mit grauen bis tiefschwarzen zirkularen Feldern, die sich wie eine Maske um und auf die Augenpartie legen und den Portraitierten ihre Individualität nehmen, um ihnen den Schutz dieser Maske zu geben. Darin liegt etwas Verstörendes, etwas Unheimliches und Abgründiges, etwas voller Kraft und Faszination.
Eine Anziehungskraft des Geheimnisvollen hinter dieser Maske, in dieser Uniform – der Person und ihres individuellen Schicksals. Etwas Verstörend-Unerklärliches, das dieser schicksalhaften Zeit für ganze Generationen innewohnt und über Fotografien in unser kollektives Bildgedächtnis eingeschrieben ist.
Der Prozess dieser Bildwerdung dieser Arbeiten ist vielschichtig und langwierig:
Die Glasnegative, die den Abbildungen zu Grunde liegen, werden zunächst auf historisches Fotopapier belichtet und entwickelt. Dieser erste Schritt führt zu einer Aneignung der tradierten Dokumente durch die Abbildung der Person auf das Fotopapier der Künstlerin. Abschluss dieserEntwicklung legt Gabi Kaiser den Augenpartien optische Linsen auf und belichtet das Fotopapier nochmals. Durch die aufgelegten Linsen wird die Intensität des Lichts in Punkten und Flächen extrem erhöht. Dann wird weiter entwickelt. Stärke und Dauer der Lichteinstrahlung bewirken die Tiefe der Schwärzung. Temperatur, Konsistenz, Alter und Einwirkzeit der Entwicklerlösung bewirken deren Intensität und Verlauf. Aus den Fotografien werden Fotogramme.
Gabi Kaiser lenkt all diese Prozesse, belässt ihnen aber ihre eigene Dynamik, bis das Ziel ihrer Wirkung erreicht ist: drastisch, radikal; milde und voller Sensibilität.
Durch das sorgsame Auf-Belichten der Augenmasken öffnen sich Abgründe und Tunnel durch ein Jahrhundert hindurch und Verbindungen über Dekaden hinweg zwischen den Betrachtenden und den Abgebildeten. Die individuelle Einmaligkeit der Abgebildeten wird bewahrt, sie wird verdeckt und geschützt. Lese ich die Schwärzungen als Schutz, als Schutzbrille oder Schutzgläser, werde ich selbst zum Objekt. In mir entsteht das latente Gefühl, als Individuum selbst in dieser Verbindung durch Zeit- und Raumkanäle beobachtet und gemustert zu werden. Halloween und keltische Sagen und Lieder basieren auf dieser temporären, aber unmittelbaren Nähe zu einem jenseitigen Reich der Verstorbenen, der in der diesseitigen Welt maskiert begegnet wird.
Durch weitere Schlüsselreize der Fotografien jener Zeit, dringen die Fotogramme tief in mein individuelles Bildgedächtnis. Durch dieses leicht braune, leicht gelbliche „Sepia“, dieses sich wellende Papier der Originale, ihre Haptik und der leichte Geruch nach dem Prozess Ihrer Entstehung.
Sie werden Auslöser und Teil meiner Erinnerung an die Individuen, an deren Individualität und Kollektivität.Aus dieser Erinnerung wird Gedenken, individuell und kollektiv.
diese Arbeiten, gerade weil es Unausweichliches Gedenken durch definitiv nicht meine Erinnerung ist.
Jochen Steinmetz
Man könnte die Werkserie der Fotogramme als wissenschaftliche Studien ansehen, auf deren Basis die inhaltlich komplexere Werkserie der Soldaten und Soldatenwitwen (2018-XXX) aufbaut. Hier belichtet Kaiser hundert Jahre alte Glasnegative neu und setzt Linsen anstelle von Augen auf die Porträts. Diese Linsen sieht die Künstlerin gewissermaßen als „Portale in andere Welten“. Sie erinnern gleichermaßen an Planetenkonstellationen (Macro-Kosmos) und an kleinste Teilchen (Micro-Kosmos). Um die Linsen in einem zweiten Belichtungsdurchgang in die Fotografien integrieren zu können, sind die vorhergehenden Experimente der Fotogramme absolute Vorbedingung. Ohne diese besondere Art von Testreihen wäre Kaiser nicht in der Lage, die unterschiedlichen Belichtungsvorgänge ästhetisch überzeugend miteinander zu verbinden. Doch es wäre eindeutig zu kurz gegriffen, die Fotogramme nur Mittel zum Zweck zu verstehen. Aufgrund ihrer weitgehenden Abstraktion, kann sich der Betrachter vollkommen auf die Vielfalt ihrer Tonalität einlassen, Lichtbrechungen verfolgen und die Komposition als Ganzes auf sich wirken lassen. Eine aufs Wesentlichste reduzierte Fotografie, die den Betrachter zu einer visuellen Meditation einlädt. (Alexa Becker)